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Das Training neben dem Platz

Mit einer normalen Praxis, wo einem schon die Einrichtung in sterilem Weiß entgegen schreit “DU BIST KRANK”, hat das Rehathleticum am Salzufer nichts zu tun. Auch nichts mit einer schnöden Muckibude. Das moderne Physiotherapiezentrum ist auf dem historischen Gelände einer ehemaligen Lanolin-Fabrik untergebracht und liegt idyllisch am Landwehrkanal. Der Empfangsraum ist in Salbei-Grün gestrichen, eine Tapete mit Dschungelmuster macht die Sitzecke neben dem Wasserspender zum Interior-Highlight. Es geht schließlich ums Gesundsein oder -werden. Da isst das Auge mit.

Gleich hinter dem Empfangstresen beginnt im Rehathleticum eine ganze “Allee” von Behandlungsräumen. Von klassischer Physiotherapie, Osteopathie, über manuelle Therapie, zu Elektro-, Ultraschall-, Wärme-, Stosswellen- oder Lasertherapie kann man sich hier alles angedeihen lassen. Auch von Viktorias Physiotherapeutin Anja Scholz, die nun seit Januar hier arbeitet. Heute empfängt mich aber Antje Bülow.


Mutti, Schwester, Seelsorgerin

Antje Bülow kommt eigentlich aus der Leichtathletik und trainiert neben ihrem Job als Physiotherapeutin eine Fußballmannschaft junger Mädchen. Sie hat die natürliche Autorität einer Trainerin, sieht sich aber auch als “Mutti, große Schwester, Motivatorin und Seelsorgerin” für ihre Schützlinge.

(Credit: Claudius Pflug)


Sie schickt mich in den Kraftraum nebenan. Naja. Ich gebe zu, meine Sportleggins ist nur Show. Ich werde bei meinem Besuch heute damit beschäftigt sein, meinen Notizblock vollzukritzeln, während unsere Viktoria-Spielerinnen Katja Friedl, Vanessa Lux und Mona Sarr trainieren.




Mona Sarr hat seit Mai 2022 mit einer Achillessehnenentzündung zu kämpfen und kann momentan nicht am Mannschaftstraining teilnehmen, geschweige denn an Spielen.


(Credit: Kai Heuser, @heuserkampf)


Am Tag zuvor hat sie mit ihrem 6-jährigen Bruder ein bisschen gekickt. Sie kriegt von Physiotherapeutin Antje gleich zu Beginn des Reha-Trainings strenge Fragen gestellt. “Hattest du Schmerzen davor? Währenddessen? Danach?” Kopfschütteln. Neben dem Training geht es hier auch darum, die Spielerinnen auch mal zu bremsen. Gerade junge Menschen neigen dazu, über ihre Grenzen zu gehen. Auch über Schmerzgrenzen. Besonders jetzt, zum Ende der Saison, wenn es um neue Verträge geht. An Ehrgeiz und Leistungswillen mangelt es unseren Spielerinnen schließlich nicht. Mona kommt momentan zwei mal pro Woche ins Rehathleticum, anfangs sogar viermal - neben dem individuellen Krafttraining, das sie im Sportraum ihrer Schule macht. Für die Abwehrspielerin geht es um die stufenweise Wiedereingliederung ins Mannschaftstraining, quasi ums “Hamburger Modell”. Gespielt wird “aber nur bei vollständiger Genesung”, betont Antje Bülow. Dazu steht die Physiotherapeutin in ständigem Austausch mit dem Verein. Hier im Rehathleticum geht es in erster Linie um Gesundheit. Das weiß auch Vanessa, unsere Nummer 5.

“Früher hätte ich einfach weitergespielt”



Vanessa Lux hat früher 40 Stunden Vollzeit als Erzieherin gearbeitet. Inzwischen studiert sie Psychologie an der FU. Das lässt sich besser mit dem Training vereinbaren.


(Credit: Kai Heuser, @heuserkampf)



Zum Präventionstraining ins Rehathleticum kommt Vanessa regelmäßig wegen eines alten Kreuzbandrisses. Beim 4:0 gegen Stern 1900 gestern hatte sie Schmerzen, erzählt sie. Sie hat sich auswechseln lassen. “Früher hätte ich einfach weitergespielt, da wäre ich nie vom Platz gegangen”. Heute weiß Vanessa: Vorsorge ist besser als Nachsorge. Nebenan, auf dem Fahrradergometer, wärmt sich unsere Mittelfeldspielerin Katja Friedl auf.


Katja Friedl (2. v. r.) hat einen Knorpelschaden im rechten Knie und ist “freiwillig” im Rehathleticum. Sie sagt das mit Anführungsstrichen. Anfangs wollte sie gar nicht bleiben.


(Credit: Kai Heuser, @heuserkampf)


Katjas Diagnostik zu Beginn der Kooperation von Viktoria und dem Rehathleticum ergab ein Kraftdefizit von 50 Prozent im rechten Bein. Aber nicht nur Katja, die komplette Mannschaft wurde zu Beginn der Kooperation einem Screening unterzogen. Status Quo-Analyse mit einer vollständigen Anamnese. Welche Verletzungen und Operationen gab es? Wie sind die Bänder und Sehnen drauf? Was sagt die Wirbelsäule, wie sind die Körperachsen und der Gelenkstand? Wie ist der Zyklus, die Darmtätigkeit? Dazu kommt die funktionelle Diagnostik. Dabei werden Beweglichkeit, Stabilität, Maximalkraft, Kraftausdauer und die neuromuskuläre Aktivität der Muskeln gemessen. Letzteres geschieht mit Hilfe der Elektromyografie (EMG). Dafür bekommen die Sportler*innen kleine Elektroden auf die Haut geklebt. Das alles dient dazu, die Qualität und Quantität der Bewegungsabläufe zu analysieren. Dazu gibt es im Rehathleticum unter anderem einen Speedcourt und ein Laufband mit integrierter Druckmessplatte. Im Kraftraum befinden sich auch unzählige Messplatten überall auf dem Boden. Ich muss aufpassen, wo ich hintrete. Nicht, dass bei mir aus Versehen auch noch was gemessen wird.


Nach der Analyse ist vor dem Training

Die in den Boden integrierten Messstationen geben die Werte direkt an den PC auf dem Schreibtisch am Ende des Raumes weiter. Therapeutin Antje zeigt mir Balkendiagramme. Gott sei Dank Balken. Bei Kuchendiagrammen bekomme ich immer Appetit auf Torte. Ein Zahlenfreak bin ich nicht gerade. Antje auch nicht. “Das macht alles der Computer”, sagt sie. Nach dem Messen gilt es zu handeln. Nach der Analyse ist vor dem Training. Die funktionelle Diagnostik ist die Basis für alle Therapie- und Trainingsschritte. Den Ursachen für Beschwerden soll möglichst präzise und effektiv auf den Grund gegangen werden, anstatt nur Symptome zu lindern. Manche Trainer*innen haben Angst, dass nach dem Check die halbe Mannschaft raus ist. Auch Vanessa und Katja waren erstmal raus aus dem Spiel. Asymmetrien über 20 Prozent bergen ein hohes Verletzungsrisiko. Mittelfeldspielerin Katja hat nach zweiwöchigem Training mit Antje nur noch ein 16-prozentiges Kraftdefizit am geschädigten Bein. Sämtliche Daten werden ständig aktualisiert, wieder analysiert und die Trainingspläne dementsprechend modifiziert. Die zu absolvierenden Übungen werden auf kleinen Zettelchen ausgedruckt, so dass die Spielerinnen sie mit Magneten an die raumhöhen Heizkörper pappen können. Immer vor Augen, was als nächstes auf dem Plan steht. Katja kommt inzwischen gerne zweimal pro Woche - zusätzlich zu dreimal Mannschaftstraining und ihrem individuellen Krafttraining wohlgemerkt. Weil sie merkt, dass es was bringt. Also trainiert sie eigentlich sechsmal die Woche und am Sonntag ist ein Spiel. “Ich habe aber trotzdem ein Leben”, sagt sie, als sie meinen besorgten Blick sieht. Sie arbeitet Teilzeit in einer Personalvermittlung. “Und es wird auch Teilzeit bleiben im Hinblick auf die kommende Saison”. Denn wenn Viktoria in die 2. Bundesliga aufsteigt, wird das Trainingspensum nicht weniger. Im Gegenteil.


Auf den Körper hören

Die 18-jährige Mona macht gerade einbeinige Sprünge. Die Daten am PC zeigen, dass sie rechts ein bisschen instabiler ist als links. Noch. Deswegen ist sie ja hier. Eine Videokamera filmt sie bei den Übungen. Die Aufnahmen und Analysen werden direkt auf einem riesigen Bildschirm an der Wand angezeigt. Biofeedback. So kann Mona direkt sehen, was Sache ist. Aber neben all den Zahlen und Analysen gilt es trotzdem, in den eigenen Körper reinzuhören. 24 bis 36 Stunden nach dem Reha-Training dürfen Schmerzen sein, ein neuer Muskelreiz macht eventuell leichten Muskelkater. Danach muss der Schmerz weg sein. Sonst war es zu viel. Dann muss vielleicht wieder weniger oder passiv therapiert werden. Unterdessen macht neben mir eine Athletin der rhythmischen Sportgymnastik beeindruckende Verrenkungen und Klappmesser-Übungen. Menschen aus allen möglichen Sportarten trainieren hier. Auch Champions League Spieler. Die Kosten können übrigens bei der Berufsgenossenschaft geltend gemacht werden. Zumindest teilweise. Promis werden hier hin und wieder auch gesichtet. Zum Beispiel die First Lady, Elke Büdenbender kommt regelmäßig. Schauspieler Frederick Lau war auch schon hier. Er hat früher Eishockey gespielt und Judo gemacht. Und Fußball-Fan ist er auch. Beim Spitzenspiel gegen Union stand er im strömenden Regen in unserem nach Köpenick gereisten Fan-Block. (@Frederick: Wenn du das hier liest, melde dich doch mal zwecks Interview. Nur so von Steglitzerin zu Steglitzer, von Viktoria Fanin zu Viktoria Fan!) Auch Menschen wie du und ich kommen ins Rehathleticum. Ein Mann mittleren Alters mit leichtem Wohlstandsbäuchlein macht still seine Übungen in der Ecke. Reha-Sport wie die Profis als Kassenleistung? Das nennt sich KGG - Krankengymnastik am Gerät. Ich bin kurz davor, mir eine Verordnung von meiner Orthopädin zu holen!


“Medizin soll allen zugänglich sein”

…sagt Inhaber Fabian Kittman. Er hat elf Jahre lang die Handballer der Füchse Berlin betreut. Doch bei 100 Spielen pro Jahr stand er kurz vor dem Burn Out und wollte etwas Eigenes aufbauen. Im Männersegment waren ihm zu viele Egos unterwegs, erklärt er mir verschwörerisch.

(Credit: Claudius Pflug)


Neben Fabian liegt eine Tafel Schokolade auf dem Schreibtisch. Sportlernahrung? “Ist doch Ritter Sport”, lacht er. Bei seiner Arbeit hier schöpft Fabian aus seinem Erfahrungsschatz aus über einem Jahrzehnt im professionellen Leistungssport und der Betreuung von Top-Athleten aus aller Welt. An der Zusammenarbeit mit Viktoria reizt ihn, dass Dinge anders und innovativer angegangen werden.


Acht Augen sind besser als zwei

Das Netzwerk aus seinem alten Job ist ihm aber geblieben. Dazu gehören Expert*innen aus den unterschiedlichsten Bereichen. Zum Beispiel aus der Kardiologie, aber auch aus der Zahn- oder Umweltmedizin. Natürlich gibt es mit Steffi Platt auch eine externe Beraterin in Sachen Zyklus-basiertem Training. Die Läuferin und ehemalige Leistungssportlerin hat in Berlin den Verein Fierce Run Force gegründet. Es geht Fabian Kittmann um einen interdisziplinären Austausch. “Vier, sechs oder acht Augen sehen einfach mehr als zwei”.


Körperzusammensetzungsanalyse oder Trainingssteuerung und -überwachung per Sidelinesports App - das Ziel ist eine bessere Performance und schnellere Regeneration. “Im Leistungssport geht es darum, schnellstmöglich wieder fit zu sein”, sagt Fabian. “Ich will ganz schnell wissen, was das Problem ist und was ich tun kann. Und ich will messbar machen, ob die Therapie was bringt”. Dabei sieht er sich als gesundheitlichen Anwalt der Spielerinnen. Er betrachtet den Menschen ganzheitlich. Es geht um die physische und psychische Fitness. Da gilt es bei Profisportler*innen auch mal die Gesundheit gegen den Verein zu vertreten.


Was hier im Rehathleticum allerdings nicht gemessen und analysiert werden kann, ist, ob Viktoria in die Relegation kommt. *Zwinkersmiley* “Aber wir können die Voraussetzungen schaffen, dass alle Spielerinnen fit sind”, kontert Fabian. Touché.

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