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Depressionen im Sport: Das Limit von Kopf und Körper

Heute geht es um den vielleicht schwierigsten Gegner im Sport - um den Gegner im Kopf. In Deutschland sind jedes Jahr etwa 27,8 Prozent der erwachsenen Bevölkerung von einer psychischen Erkrankung betroffen. Das entspricht rund 17,8 Millionen Menschen. Denn: Jede*r mit einer Psyche, kann psychisch krank werden. Also alle von uns.


Darunter sind natürlich auch Sportler*innen. Nils Petersen (zuletzt FC Freiburg) hat seine Karriere nach der letzten Saison beendet und berichtet in seinem Buch “Bankgeheimnis - Selbstgespräche eines Fußballprofis” von seinen psychischen Problemen. "Wir Fußballer werden ja immer damit in Zusammenhang gebracht, dass es uns immer gut geht", sagte Petersen zum SWR Sport. "Weiße Schuhe, gegelte Haare. Aber da ist eben nicht alles immer rosarot."

Diese Erfahrung hat auch Profi-Fußballerin und Ex-Nationalspielerin Carina Schlüter gemacht, wie sie in der ARD-Doku “Was uns wirklich bewegt: Mentale Gesundheit im Sport” berichtet. Sie sagt: “Die Depression ist die schlimmste Verletzung, die ich jemals hatte”. Doch sie hat es geschafft! Aus der Klinik in die Champions-League.


(Credit: ARD Doku)

Den Gegner im Kopf kenne auch ich nur zu gut. Ich habe eine wiederkehrende Depression. Niedergedrückte Stimmung oder Gefühlsleere und Antriebslosigkeit sind nur zwei der zahlreichen Symptome. Was mich als begeisterte Hobbyathletin zusätzlich fertig macht, ist das Symptom der psychomotorischen Hemmung.



Beim Ausdauertraining macht sich eine lähmende Verlangsamung meiner Bewegungsabläufe bemerkbar, als würde ich Gewichte hinter mir herziehen. Ich muss jeden Schritt und jeden Atemzug denken und aus mir herauspressen. Als würden die Signale aus dem Gehirn nicht in den Muskeln ankommen, meine Beine fühlen sich dann völlig leer an.


(Credit: Mateo @behindraw)




Diese Trainingserlebnisse sind traumatisch. Sie gleichen einem Kontrollverlust über den eigenen Körper. Anschließend verspüre ich tagelang diffuse Schmerzen, als wäre mein Körper ein Korsett aus Muskelkater. Trotzdem versuche ich meine sportlichen Aktivitäten während depressiver Episoden so gut es geht aufrechtzuerhalten, da Sport eine meiner wichtigsten Bewältigungsstrategien ist. Allerdings ist an manchen Tagen nicht mal mehr ein langsamer Spaziergang ohne völlige Erschöpfung möglich. Wie schaffen das Menschen, deren Job der Sport ist?!?

Ex-Nationalspielerin und Profi-Fußballerin Carina Schlüter kennt die Depression nur zu gut. Bei ihr standen aber ganz andere Symptome im Vordergrund. Über Monate hinweg litt sie unter Schlafstörungen und schlief nur noch maximal drei Stunden pro Nacht. Zu dieser Zeit war die Torhüterin beim FC Bayern München unter Vertrag und laborierte an einer Knieverletzung.


(Credit: @sampics)


An Genesung war für Carina Schlüter in der Reha nicht zu denken, denn zu Schlafstörungen gesellten sich endlose Grübelschleifen. “Schuldgefühle, die aus dem Nichts kamen, private Belastungen, dann der Reha-Verlauf und dass ich nicht bei der Mannschaft sein konnte... Unheimlich viele Themen sind irgendwie auf mich eingeprasselt und ich wusste einfach nicht wohin damit”, berichtet Carina. “Und dann dieses für Leistungssportler typische Denken: Es muss mir gut gehen! Ich darf das nicht zeigen, ich muss das irgendwie runterschlucken. Ich habe alle Probleme, die ich hatte, klein geredet und gesagt, anderen Leuten geht es viel schlechter. Warum habe ausgerechnet ich jetzt die Erlaubnis, dass es mir schlecht gehen darf?


Die Depression ist weder eingebildet noch eine Waschlappenkrankheit. Es ist eine Störung des Denkens, Fühlens und Handelns und hat eine neurobiologische Grundlage. Die Informationsweiterleitung von einer Hirnzelle zur anderen funktioniert zum einen mittels elektrischer Impulse, zum anderen durch Nervenbotenstoffe - sogenannten Neurotransmittern wie Serotonin, Dopamin, Adrenalin oder Noradrenalin. Diese haben Einfluss auf unseren Antrieb, unser Verhalten und auf das emotionale Befinden. Bei psychischen Erkrankungen ist dieser Botenstoffwechsel im Gehirn verändert.


Das hat bei mir wie beschrieben auch eine Retardierung als Begleitsymptom zur Folge, also insgesamt verlangsamte Bewegungen und einen verlangsamten Gang. An “Laufschuhe anziehen und los” oder gar Tempotraining ist in solchen Momenten nicht zu denken. Dazu kommen eine reduzierte Mimik, also eine Verlangsamung oder Versteinerung des Ausdrucks in meinem Gesicht, eine leise und langsame Sprache oder eine gebeugte Körperhaltung. Als würde ich von einer unsichtbaren Last gebremst oder niedergedrückt. Daher auch der Name “Depression” - vom lateinischen “deprimere”, was so viel bedeutet wie “niederdrücken”. Das bezieht sich nicht nur auf die Stimmung, sondern mitunter eben auf den gesamten Körper.


Das Gegenteil der Retardierung bzw. psychomotorischen Hemmung ist die Agitation, also die psychomotorische Erregung. Betroffene bewegen sich dann sehr viel mehr und vor allem unkontrollierter, fast rast- und ziellos, wie ein Tiger im Käfig. Psychomotorische Störungen werden bei Menschen mit Depressionen häufig als Symptom beobachtet. In der großen Star*D-Studie hatten 60–70 Prozent der Patienten mit Depression eine psychomotorische Störung.


Die Bremse im Hirn


Prof. Dr. med. Sebastian Walther ist Chefarzt und stellvertretender Direktor am Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Bern. Er erforscht, was genau im Gehirn von depressiven Menschen passiert, wenn die gewohnten Bewegungsabläufe gestört sind.



Prof. Sebastian Walther und sein Team messen bei Menschen mit Depression mit Hilfe von Aktometrie die Bewegungsgeschwindigkeit und -menge. Diese Untersuchungen werden mit Magnetresonanztomographie vom Kopf kombiniert, um zu sehen, was während der Tests im Gehirn passiert. “Das motorische System - also die Hirnregionen, die für Bewegungsplanung und -ausführung zuständig sind - sind bei Menschen mit Depressionen generell verändert”, beobachtet Prof. Walther. “Bei depressiven Patienten, die verlangsamt sind, herrscht eine Art Überaktivität in diesen Bereichen. Das Gehirn ist damit beschäftigt, unentwegt Handlungen zu planen, aber der Körper führt die Bewegung nicht wie geplant aus.” Hier kommt die Mind-Muscle-Connection ins Spiel. Unser Gehirn und unsere Muskulatur sind miteinander verknüpft. Will man beispielsweise den Bizeps anspannen, muss das Gehirn Signale über das zentrale Nervensystem an den Muskel senden. Diese Impulse sorgen für eine Kontraktion. Die Qualität dieser Mind-Muscle-Connection steuert die Intensität der Muskelarbeit. Doch das scheint bei psychomotorisch gehemmten Menschen nicht wie gewohnt zu funktionieren. Das Hirn gibt zwar Gas, allerdings bei gleichzeitig angezogener Handbremse. Diese Veränderungen und Abläufe kann man sichtbar machen und messen, aber die Ursachen dafür sind noch immer ein Rätsel. Eine Theorie ist, dass es sich um eine Veränderung im Dopamin- bzw. GABA (Gamma-Aminobuttersäure)-Haushalt handeln könnte, die die Psychomotorik beeinflusst. Allerdings ist die Forschung dazu noch ganz am Anfang. Einen Ansatz bieten Untersuchungen von Menschen mit Katatonie. Katatonie ist die stärkste Ausprägung der psychomotorischen Hemmung. Sie zeigt sich in einer stark verkrampften Haltung des gesamten Körpers. Das menschliche Gehirn verfügt nämlich über eine Art Notbremse für Gefahrensituationen. Wenn wir uns auf eine Straße zubewegen und dabei ein plötzlich heranrasendes Auto sehen, müssen wir unsere laufende Bewegung abrupt unterbrechen. Diese “Notbremse” unserer neuronalen Verbindungen - hyperdirekter Weg genannt - ist der schnellste Weg, um alle motorischen Funktionen sofort zu unterbinden. Eine Art Abkürzung quasi. Man geht davon aus, dass diese Funktion bei psychomotorisch gehemmten Menschen gestört, also permanent die Notbremse gezogen ist.


Die Fassade im Sport




Carina Schlüter (26) ist heute beim SKN St. Pölten in Österreich unter Vertrag. „Es ist vollkommen egal, was die Auslöser sind. Es ist vollkommen egal, ob es ist, weil der Hamster einen Schnupfen hat oder weil das Haus abgefackelt ist. Wenn man sich schlecht fühlt, dann hat man auch die Erlaubnis, sich schlecht zu fühlen.”


(Credit: SKN St. Pölten)




Carina Schlüter hielt trotz Depression im Verein lange eine Fassade aufrecht. Sobald sie den FC Bayern Campus betrat, funktionierte sie. Aber wenn sie das Gelände verließ, brach sie zusammen. “Ich habe mich manchmal mit dem Auto an den Straßenrand gestellt und bin einfach erstmal nicht weitergefahren.” Erst ein sehr wachsamer Physiotherapeut erkannte, dass Carina krank war. “Gerade Physiotherapeut*innen sind der Mannschaft ja sehr nah. Das ist eine ganz besondere Beziehung. Auf der Liege werden Sachen erzählt, die einem wirklich auf dem Herzen liegen - auch mal private Themen, die einen beschäftigen oder belasten. Mein Physiotherapeut kannte mich sehr gut und hat gemerkt: Das Mädel kommt nicht mehr klar.” Er vermittelte sie an einen Psychologen. In diesem Moment war Carina sehr erleichtert, weil sie merkte, sie muss da nicht alleine durch. Sie begab sich in eine psychosomatische Klinik. Im Verein hielt Carina Schlüter ihre Erkrankung aus Angst vor Stigmatisierung vorerst geheim. Ihre größte Angst war, dass ihre Depression an die Öffentlichkeit kommt. “Ich habe darauf geachtet, dass ich in der Klinik kein Trainingsshirt vom FC Bayern anhabe oder dass man da irgendwie eine Verbindung herstellt. Trotzdem wurde ich in der Klinik mehrmals erkannt und hatte Angst, verurteilt zu werden. Ich hatte Angst, dass jemand sagt, ‘Die hat einen an der Klatsche’.” Zur Angst vor Stigmatisierung gesellten sich auch Existenzängste. “Was ist, wenn jetzt irgendwelche Fangesänge angestimmt werden? ‘Die Schlüter ist labil’ oder so etwas? Was, wenn ich keinen neuen Vertrag mehr bekomme, weil Arbeitgeber denken, die ist als Torhüterin nicht ganz richtig im Kopf? Deswegen habe ich die ganze Zeit irgendwie immer versucht, mich zu verstecken. Ich konnte nie wirklich ich sein.” Doch die Wochen in der Klinik und die Therapie halfen Carina. Genau wie der Fußball. Selbst in der Klinik hatte sie immer einen Ball dabei. Manchmal verzog sie sich stundenlang in den Wald und jonglierte einfach vor sich hin.


Die Smartwatch als Frühwarnsystem?


Währenddessen konzentriert sich Prof. Sebastian Walther in seiner Forschung weiter auf die Psychomotorik. Denn es ist möglich, das motorische System von außen durch die Schädeldecke zu beeinflussen. Etwa mit Magnetstimulation. Das klappt allerdings nicht bei allen Proband*innen. Diese Verfahren sind noch weit entfernt von einer klinischen Anwendung. Außerdem hofft man, dass man anhand der Bewegungsveränderungen eventuell vorhersagen kann, ob sich zum Beispiel eine depressive Episode anbahnt oder jemand gerade Gefahr läuft einen Rückfall zu erleiden. Die Psychomotorik als ein messbarer Biomarker und Frühwarnsignal? Die Hoffnung ist, dass man in Zukunft objektivierbare Daten hat. Eine Smartwatch könnte dann zum Beispiel auffällige Bewegungsänderungen melden. So nach dem Motto: “Hey, du läufst wieder langsamer oder zu wenig!” Ziel muss sein, dass sich Betroffene möglichst frühzeitig in Behandlung begeben - und sich weiterhin bewegen. Denn Sport hilft gegen Depression! Aber: Psychomotorische Verlangsamung macht Sport mitunter unmöglich und das frustriert, was die Depression möglicherweise wiederum verstärkt. Ein Teufelskreis. Prof. Dr. Sebastian Walther hält seine Patient*innen trotzdem an, sich möglichst viel zu bewegen. Auch wenn die Überwindung des Antriebsmangels während der Depression einen enormen Energieaufwand bedeutet. Bei Profisportler*innen wiederum sei wichtig, dass über den Leistungsdruck nicht der Spaß verloren geht: “Man muss in die Lage gebracht werden, wieder mehr Freude am Training zu empfinden. Das heißt, man muss sich gut überlegen, wie man trainiert. Dazu braucht es eine differenziertere Anleitung - eben das richtige Maß.” Doch an der Balance aus Sollen und Wollen, aus Leistung und Spaß hapert es im Profi-Bereich manchmal. Carina Schlüter vergleicht das mit der Rückennummer auf dem Trikot. Man sei nur eine Nummer. “Wenn man verletzt ist, dann steht halt die nächste Spielerin da. Der Fußball ist ein Wirtschaftsunternehmen. Wenn jemand nicht die Leistung bringt, für die er bezahlt wird, ist es klar, dass man Ersatz sucht. Das ist einfach ein hartes Business.”


Im Kopf können Spiele entschieden werden


Eine erfreuliche Entwicklung ist, dass es inzwischen immer mehr Mental Coaches und Sportpsycholog*innen gibt. Ein Berufszweig, für den sich auch Louise Trapp interessiert. Louise läuft nicht nur im Mittelfeld beim FC Viktoria Berlin auf, sondern studiert nebenbei auch Psychologie in Dresden. Dabei ist sie sehr fokussiert. Während ihre Studienkolleg*innen gemeinsam den Semesterabschluss feiern, fährt sie abends zum Training nach Berlin.



Denn sowohl die Psychologie als auch der Fußball sind schon lange Louises Leidenschaften. Deswegen will sie sich nach dem Bachelor vielleicht auf Sportpsychologie spezialisieren.


(Credit: Kai Heuser @heuserkampf)



„Ich mache das gefühlt, seit ich denken kann. Seit 16 Jahren spiele ich Fußball, zwischenzeitlich auch auf Leistungsniveau. Ich habe im Internat bei Turbine Potsdam zweimal pro Tag trainiert. Nach dem Abi war ich für ein Jahr in Chicago und habe dort auf dem College ebenfalls Fußball gespielt. In den USA ist das Mentale ein viel größeres Thema. Deswegen habe ich mich viel mit Persönlichkeitsentwicklung beschäftigt. Ich horche immer wieder in mich hinein, um zu schauen: Wer bin ich? Wer will ich sein? Was sind meine Werte, meine Ziele?” Für Louise ist klar, wer körperliche Höchstleistungen erbringen möchte, muss auch mental fit sein: „Im Kopf können Spiele entschieden werden. Die Mentalität auf dem Platz kann einen sehr großen Unterschied machen - auch wenn du das vermeintlich schlechtere Team bist.“ Was Louise gelernt hat: Sie kann auf ihre Stärke vertrauen, auch wenn es auf dem Platz zu unvorhersehbaren Situationen kommt. Aber sie akzeptiere auch, wenn sie etwas mal nicht unter Kontrolle hat:„Sich über Sachen aufregen, die man nicht ändern kann, bringt nichts. Ich versuche, immer das Beste daraus zu machen. Aber die mentale Gesundheit hat ja noch viel mehr Facetten. Wenn man Schicksalsschläge oder Krisen nicht alleine bewältigen kann, ist professionelle Hilfe wirklich sinnvoll.“ Und die Unterstützung bekommt unser Team vom FC Viktoria Berlin nun auch. (Mehr über unser neues Trio für diesen Bereich im nächsten Newsletter). Louise Trapp erhofft sich von den dreien, dass sie Ansprechpartnerinnen für Themen sind, die man nicht mit dem Trainer besprechen möchte. Oder Vertrauenspersonen, die einem einen guten Rat geben können, “damit man sich sowohl auf dem Platz verbessern kann, als sich auch neben dem Platz wohler fühlt.“


Der eigene Akkustand

Profi-Fußballerin Carina Schlüter wiederum sagt, “die Depression war für mich die schlimmste Verletzung, die ich je hatte”. Heute geht es ihr gut. Sie ist Erfahrungsexpertin ihrer Erkrankung geworden und nimmt den eigenen Akkustand genauso wichtig wie den ihres Handys. Sie hat es von der Klinik in die Champions League geschafft. Neben Fußballkarriere und Medizinstudium hat sie sogar noch ein eigenes kleines Unternehmen für Gesundheitscoaching gegründet und ein 6-wöchiges Achtsamkeitstraining für Sportler*innen konzipiert, das sie auf Anfrage verkauft. Trotzdem müsse das Thema psychische Erkrankungen noch viel mehr entstigmatisiert werden, findet Carina: “Je mehr darüber gesprochen wird, desto mehr Normalität entsteht.” Schließlich redet man über Kreuzbandrisse ja auch… In diesem Sinne: Passt auf euch und aufeinander auf. Niemand muss sich für eine Erkrankung schämen.

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